Haben die Gipfel hier einen Weg für uns, in ihrer Mitte, freigelassen?

Jonson ist ein Typ mittleren Alters, dessen Eltern wohl aus Skandinavien ausgewandert sind. Vermutlich kamen sie nicht von ganz oben aus dem hohen Norden, sondern eher aus dem kleinen Land, dass zwischen Skandinavien und Mitteleuropa liegt. Und sie kamen wohl zum Arbeiten in dieses, von vielen ihrer ehemaligen Landsleute, als total dreckig eingestufte Industrieland, dass eben auch an ihr Land grenzte. Jonson lernte es aber als garnicht so dreckig kennen, und begann bald die Gegend in seiner neuen Heimat zu schätzen. Früher waren die höchsten Erhebungen in seiner weiteren Umgebung höchstens 200 Meter hoch. Jetzt luden die Mittelgebirge in seiner Nähe zu ausgiebigen Erkundungen ein. Jonson fing an, sich für mehrtägige Wanderungen zu begeistern. Als Naturbursche aber mit draussen übernachten. Irgendwann fuhr er auch mal in das grössere Gebirge auf seinem Kontinent, und war hellauf begeistert. Nicht von den vielen Skifahrern und Massentouristen, wohl aber von der wahren Wildheit der Berge. Abseits vom Trubel, traf Jonson den ganzen Tag Niemanden, und bekam ein Gefühl für die Einsamkeit. Ganz Alleine in den Bergen unterwegs zu sein ist nicht ungefährlich, besonders, wenn man sich wirklich in einsamen Gegenden befindet. Besonders schön fand Jonson es, im Winter unterwegs zu sein. Er machte sich mit den Verhaltensweisen für Winterwandern in den Bergen vertraut, kaufte sich Schneeschuhe, und begann sich zu fragen, wie es wohl wäre, auch im Winter draussen zu zelten. Drei Jahre nach seinem ersten Besuch in den Bergen konnte er es. Morgens war es minus fünf Grad kalt, aber ohne Wind. Dicke Schneeflocken rieselten senkrecht herab. Es war sehr schön, und Jonson musste noch feststellen, dass es auch ganz anders sein kann. Aber bei Schneefall und bewölktem Himmel, ohne Wind, war Alles sehr angenehm. Und die Minus fünf Grad waren ja nur morgends zur kältesten Stunde des Tages. Tagsüber war es um den Gefrierpunkt. Sobald es ein Grad wurde, war es schon fast zu warm, denn Jonson musste schweres Gepäck schleppen. Zelt, dicker Daunenschlafsack, Luftmatratze, Kocher, Spiritus, Kleidung, Proviant, dass wog schon Einiges. Durch die Schlepperei war Jonson immer auf Betriebstemperatur, und konnte abends, nach einer kleinen Mahlzeit in seinen warmen Schlafsack schlüpfen, und sage und schreibe, elf Stunden schlafen. Die waren auch nötig, weil das Schleppen im Schnee sehr anstrengend war, und Jonson auch wegen der morgendlichen Temperaturen nicht wirklich aus dem Zelt wollte. Nach so einer Nacht war es aber, als Jonson sich endlich überwunden hatte, aus dem Zelt zu krabbeln, ein Supergefühl. Nach dem Aufstehen in die kalten Schuhe rein vielleicht nicht so sehr, aber das grosse Ganze war schon sehr begeisternd für Jonson. Allerdings hörte der Schneefall nach drei Tagen auf. Der Himmel wurde klar. Tagsüber schien die Sonne, aber dafür wurde es in der Nacht jetzt wesentlich kälter. Es wurde jetzt Minus zwanzig Grad. Abends legte Jonson sich also in eine absolute Tiefkühltruhe. Aber er war ja gut ausgestattet. über dem Schlafsack hatte er noch einen Biwaksack, der auch sehr viel Effekt brachte. Und im Schlafsack zog er ein warmes Winterfließ an. Zum Glück war es aber weiterhin windstill, was die Kälte sehr gut aushalten ließ. Jonson musste bei späteren Touren noch feststellen, dass Wind ein entscheidender Faktor bei solchen Unternehmungen war. Ganz besonders, wenn er aus der kalten Richtung kam. Irgendwo dort musste wohl auch der kälteste Punkt der Erde sein.
Kurz vor Sommeranfang, begann Jonson eine längere Tour über den zentralen Hauptkamm des Gebirges. Die Berghütten in dieser Region waren noch nicht geöffnet. Hier ging die Saison erst Ende Juni los. Aber Jonson wollte die letzten beiden Wochen Einsamkeit vor dem Saisonbeginn noch mitkriegen. Er kaufte sich ein Zugticket, fuhr in das Nachbarland mit den Bergen, und stieg in der fünften Stadt in einen Dampfzug um, der ihn in ein ziemlich grosses Seitental nach Süden brachte. Der Zug brachte Jonson in die letzte Stadt dieses Tales. Hier verzweigte sich das Tal in drei weitere Täler. Nach Rechts ging es zum Gletscher mit Skigebiet und spektakulärer Seilbahn, bis über 3000 Meter hoch. Geradeaus ging es in die Einsamkeit, und eigentlich auch dahin, wo Jonson hinwollte. Er hatte die dortige Überquerung aber als zu heftig eingestuft, und versuchte es mit dem linken Tal, dass sich 25 Kilometer lang hinzog, und bis zu einem Stausee in 1800 Metern Höhe führte. Eigentlich sollte es einen Bus geben, aber Jonson hatte Pech. Der Bus fuhr diesen Monat nicht. Also lief Jonson los.Er schaffte es, nach der langen Zugfahrt noch 500 Höhenmeter hoch, bis in ein kleines Bergdorf mit einem gemütlichen Gasthof, wo ihm eine Angestellte am nächsten Morgen ziemliche Vorhaltungen machte, dass Jonson um diese Jahreszeit ganz alleine in die Berge wollte, und anscheinend garkeine Ahnung hätte. Und das noch sehr viel Schnee da oben wäre. Jonson ließ sich belehren, war aber doch zuversichtlich, dass er schon klarkommen würde. Naja, im Grossen und Ganzen kam er das ja auch. Dabei ging er aber ganz schön an seine Grenzen, denn die nächsten Tage wurden noch sehr heftig. Nach dem Gasthof machte er sich auf den langen Weg, dass Tal hoch. Er kam gut voran, und erreichte abends schon die Gebirgsregion über der Baumgrenze. Mittlerweile war er wieder aus dem Tal abgebogen, in ein weiteres Seitental, dass auf den Hauptgebirgskamm zuführte. Jonson zeltete auf einer Art Insel im Bach dieses Tales. Um ihn herum hörte er das Wasser plätschern, als er einschlief. Am nächsten Tag überquerte er den Hauptgebirgskamm, und bog hundert Meter tiefer, zu einem Bergsee ab. Um zu dem See zu kommen, musste er eine Stunde lang über drei bis fünf Meter hohe Felsblöcke klettern. Immer wieder hoch, und an der anderen Seite wieder runter. Ziemliche Schikanen auf dem Weg. Er zeltete an dem See, und am nächsten Tag wurde es richtig sonnig. Er verbrachte noch einen Tag in der Höhe, und zeltete am Abend in der Nähe eines anderen Baches, der auch noch immer weit über 2000 Meter hoch lag. Er war ja über den Hauptgebirgskamm gekommen, und sah jetzt auf die Berge gegenüber, südlich des Hauptgrates.

Unter ihm lag das Talende eines beliebten, aber auch romantischen, und zumindest am Talende, nicht überlaufenen Tales, was sich aber mittlerweile auch geändert haben soll. Am Talende gibt es eine Kapelle neben einem grossen Felsen, der Sündenschliefstein heißt. Als Jonson dort war durfte er den Felsen auch wirklich berühren, um seine Sünden abzuwaschen, was heute wohl nicht mehr möglich ist. Anscheinend ist Alles bei Kameraüberwachung verboten. Sind wohl doch zu viele Reisebusse oder andere Urlauber geworden, die das romantische Tal hochfahren, und oben am Nationalparkhaus parken, um bis zum Talende, dass immerhin auf 1500 Metern liegt zu wandern. Und auf dem Weg liegt die Kapelle mit dem Sündenschliefstein.


Aber als Jonson da war, war es ja ruhig. Jedenfalls war er sehr angetan von der Gegend, nahm sich im letzten Ort des Tales ein Zimmer, und blieb zwei Tage, während denen das Wetter umschlug. Hatte er sich doch oben an dem Bergsee einen Sonnenbrand geholt, so ging das Thermometer jetzt wieder auf 13 Grad herunter. Und nachts wohl auch noch tiefer. Trotzdem machte Jonson sich am nächsten Tag wieder auf den Weg. Er wollte auf der südlichen Seite des Tales hoch, bis zu einem Joch, was man hier aber Törl nannte, dass knapp 3000 Meter hoch lag. Auf dem Weg dorthin lag eine Berghütte, die natürlich auch noch geschlossen war. Jonson freute sich aber darauf, im Winterraum zu übernachten, was auch normalerweise sehr angenehm war. Mit Holzofen, Lagern, und einem Tisch. Winter war es auch mittlerweile wieder geworden. Hier, in über 2000 Metern Höhe, stapfte Jonson mittlerweile durch knietiefen Schnee. Die Hütte stand auf einem ein oder zweihundert Meter hohen Felsen vor Jonson. Unterhalb des Felsens waren scheinbar zwei Lawinenopfer ausgegraben worden. Jonson glaubte aber, dass dies bestimmt nur zu Übungszwecken stattgefunden hat, und ging weiter. Er kämpfte sich die letzten Höhenmeter bis zur Hütte hoch, und stand irgendwann vor der Eingangstür. Mittlerweile pfiff ein kräftiger Wind. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt herum, es lag viel Schnee, und war sehr frostig. Als Jonson die Klinke der Eingangstür herunterdrückte, und einen kleinen Flur betrat, der zu einer verschlossenen richtigen Eingangstür führte, dämmerte ihm, dass es dieses Mal nicht so viel Komfort geben würde. Der Flur war der Winterraum. Ohne Holzofen und ohne Lager. Es gab nur eine kleine Holzbank unter einem Fenster, durch dass die unwirtliche Umgebung hereinlukte. Um das Fenster herum waren viele Aufkleber von Helirettungsdiensten, und anderen Bergrettungsdiensten an der Wand verteilt. Tja, so ging Jonsons Reise los. Nichts mit gemütlich am Ofen sitzen, wenn es draussen kalt ist, und sich anschliessend gemütlich in die Lager zu kuscheln. Nein, nur auf der Bank unter dem Fenster zu sitzen, nicht mehr herauszugehen, weil es zu ungemütlich war, und sich dann die Notmatratze von einem Schrank zu nehmen, die gerade mal so auf den Boden passte. Naja, besser als Nichts dachte Jonson. Solche Wetterumschwünge sollte er noch öfter erleben. Sie sind ja auch in den Bergen nichts Ungewöhnliches. Jedenfalls kämpfte er sich am nächsten Tag durch mehr als kniehohen Schnee, und hatte dabei auch immer wieder mit Sichtbehinderung durch die Wolken zu tun. Seine nähere Umgebung war gut zu erkennen, aber das Joch verschwand immer wieder in einer dunklen Suppe am Himmel. Jonson fragte sich, ob er umkehren müsste. Allerdings tauchte das Joch doch immer wieder aus den Wolken auf, und er entschied weiterzugehen. Umso höher er kam, desto heftiger wehte der Wind. Es war genaugenommen ein richtiger Schneesturm, der auch die ganze Zeit anhielt. Jonson schaffte es trotzdem auf das Joch, und auf der anderen Seite herunter. Am nächsten Tag ließ der Schneesturm nach, und am späten Nachmittag brach sogar die Sonne durch die dicke Wolkendecke.

Jonson war mittlerweile wieder abgebogen, in ein sehr schmales und steiles Seitental. Hier wurde es noch einsamer als es vorher schon war, und er wanderte ein paar Tage weiter, bis er wieder Jemanden traf, der ihm von einem sehr schönen und leerem Seitental erzählte, dass Jonson daraufhin auch ansteuerte. Er fand einen Wanderweg, der hoch über dem beschriebenen Tal entlangführte. Irgendwo dort sollte es auch eine Möglichkeit des weglosen Abstiegs in das Tal geben. Als er glaubte, an der richtigen Stelle zu sein, verließ er den Wanderweg, und versuchte über eine Schotterrinne abzusteigen. Und genau dort geht die Geschichte los.
Sehen, lesen, hören
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