
Während Jonson den Berg herunter ging, kam das Geröll in Bewegung. Erst ein paar kleine Steine, dann auch Größere, rollten abwärts. Zum Glück kein wirklich gefährlicher Steinschlag. Nur das der Untergrund begann, sich in das Tal zu bewegen. Und das mit einer Geschwindigkeit, die höher war, als Jonson laufen konnte. Das unter seinen Füßen nachgebende Geröll riß ihn von den Beinen. Jonson wurde unkontrolliert mitgerissen, und bergab transportiert. Er rutschte auf dem Rücken liegend immer tiefer herunter, bis seine Füße auf einen festsitzenden Stein trafen, und seine Rutschpartie beendet wurde. Jetzt ein etwas größerer Stein von hinten auf seinen Kopf, und es wäre aus gewesen. Aber zum Glück passierte nichts weiter. Das Geröll rieselte noch etwas weiter herab, um dann ruhig liegen zu bleiben. Geschockt, aber auch erleichtert rappelte Jonson sich auf. Ach so, deswegen soll man nicht hier lang gehen, dachte er, und ging weiter. Einen richtigen Weg gab es auch nicht. Zumindest führte keiner dahin, wo Jonson hin wollte. Der normale Wanderweg ging oben auf dem Kamm weiter, von dem Jonson durch diese Schotterrinne abgebogen war, und führte in das gegenüberliegende Tal mit einem kleinen Ort. Aber dorthin wollte Jonson nicht. Weit unter seinen Füßen, auf dieser Seite der Gebirgskette lag ein sehr abgelegenes Seitental, ohne jegliche Infrastruktur. Scheinbar unbenutzt. Nichtmal eine Alm, oder deren Überreste gab es dort. Obwohl der Talboden von prächtigen Wiesen bedeckt war. Nebulöse Erzählungen über diese Gegend und sein Verlangen nach Einsamkeit führten Jonsons Weg genau in dieses abgelegene Tal. Weg? Das war ja nun der Falsche gewesen. Dabei war ihm doch von alten Jäger- und Schmugglerpfaden berichtet worden, die in sein Tal führen sollten. Meine Pfadfinderischen Fähigkeiten muß ich wohl nochmal überdenken, dachte Jonson. Er blieb stehen, und sah sich um.
Beim herunterlaufen von einem Berg sieht man meistens nicht den kompletten Weg, sondern nur bis zur nächsten Kante. Und wenn man sich im freien weglosen Gelände befindet, ist es immer eine gute Frage, wie es hinter der nächsten Kante weitergeht. Es kann auch senkrecht nach unten gehen. Oder wo eben ein geeigneter Abstieg ist. Nach Letzterem suchte Jonson. Zwischen einigen Felskanten konnte er ein Stück Wiese erkennen. Dort ging es weiter runter. Ist nur die Frage, ob es auch weiter geht, oder dann doch plötzlich ein steiler Felsabbruch kommt, dachte Jonson. Er stapfte trotzdem los. Es schien auch die einzige Möglichkeit zu sein. Die Wiese führte schräg nach unten, quasi eine Etage tiefer. Dann etwas rechts unter den steilen Felsen, die man von oben als Kante gesehen hatte, entlang. Dann das gleiche nochmal. Ein Stück Wiese links herunter, bis zur nächsten Terrassenstufe. Jetzt konnte Jonson einen großen Teil des weiteren Weges überblicken. Es ging nur leicht bergab, über einige kleinere Gegenanstiege, bis zur nächsten Sichtkante, ca 1km entfernt. Alles über Bergwiesen, und anscheinend gut begehbar. Wegen dem leichter werdenden Weg begann Jonson, seinen riesigen Rucksack wieder auf den Schultern zu spüren. Immer wenn die Strapazen des Weges am Größten waren bemerkte er den fast zwanzig Kilo schweren Rucksack nicht mehr.
Dann zog sich die Wolkendecke wieder zu. Als Jonson die Sichtkante erreicht hatte regnete es schon eine Zeitlang. Von hier aus konnte er bis zum Talboden herunter sehen, der noch fünfhundert Meter tiefer lag. Es gab zwar keine Felsen und keine Steilwand, die seinen Weg erschwerten, aber die Bergwiese ging sehr steil herab, und war sehr glitschig. Jonson setzte sich einfach hin, und rutschte auf seinem Allerwertesten ein Stück die Wiese herunter. Nach ein paar Metern kam eine Art Stufe, und Jonson mußte wieder aufstehen, zwei Schritte gehen, und sich wieder hinsetzen und auf dem Hosenboden die Wiese herunterrutschen. Das ging ziemlich lange so weiter, und war sehr mühselig. Nach zwei sich wirklich sehr in die Länge ziehenden Stunden erreichte Jonson, noch immer auf seinen vier Buchstaben rutschend, den Talgrund. Der Regen wurde noch stärker. Es gab wirklich gar Nichts, was irgendwie Schutz bot. Nur diese Wiese, und drumherum die Berge. Nicht mal einen Felsen neben den man sich kauern konnte. Das Ende der Wiese konnte Jonson in ein bis zwei Kilometern Entfernung sehen. Dort endete das Tal, und die Bergwände vereinigten sich. Durch die Wiese floß ein beachtlicher Bach, den Jonson leider überqueren mußte, da natürlich nur auf der anderen Seite Möglichkeiten zum Weiterkommen vorhanden waren. Diesseits des Baches lagen etwas tiefer leider unwegsame Steilstufen. Also versuchte Jonson irgendwie, den sich zehn Meter breit, ohne erkennbares Flußbett, über die Wiese ergießenden Bach zu überqueren. Das war eine matschige nasse Angelegenheit und das am gefühlt absoluten Ende der Welt. Der Bach schien sich nicht wirklich auf seine zehn Meter Breite begrenzen zu wollen. Überall stand immer mal wieder etwas Wasser auf der Wiese, und Jonson begann sich Sorgen um einen trockenen Zeltplatz zu machen. Mittlerweile wurde es Zeit dafür, denn die Abenddämmerung war schon fast vorbei. Das fiel nicht besonders auf, weil es schon seit Stunden sehr dunkel durch die Wolken war. Nach längerem Suchen entschied Jonson sich für ein kleines Stück, vermeintlich grüner Wiese, umgeben von lauter Wasser. Pfützen, die so vor sich hin plätscherten. Er baute sein Zelt auf, kochte sich etwas zu Essen, machte Tee, und versuchte sich im Regen eine Zigarette zu drehen. Irgendwann kroch er in seinen Schlafsack. Von außen prasselte der Regen gegen sein Zelt. Tief beeindruckt schlief er ein.
Die Stadt liegt auf einem Berg. Nicht schwindelerregend hoch, aber auf diesem eindrucksvollen bewaldeten Berg in einer ebenso beeindruckenden Landschaft in einem grünen Gebirge. Es ist kein kleines Bergdorf, sondern eher ein Kurort. Es gibt dort oben eine Promenade um die Aussicht zu genießen. Einen Wellnesstempel mit beheiztem Außenbad und verschiedene Kurbehandlungen. Die Promenade und einige Unterkünfte versprühen noch den Charme der Siebzigerjahre. Waschbeton und Plattenbau mit den passenden Straßenlaternen. Das hätten viele andere Städte vermutlich längst ausgetauscht. Nicht so oben auf dem Berg. Zugegeben, es ist wohl nicht die reichste Kommune, aber doch eine, bei den Gästen beliebte. Es gibt eine Straße auf den Berg, die auch eifrig benutzt wird. Abgesehen von der Stadt, ist der Berg, sowie alle anderen umliegenden Berge nur von Wald bedeckt. Die Gegend ist etwas abgelegen. Da ich ja immer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln reise, kann ich nur bis zur nächsten etwas größeren Stadt per Bus gelangen. Es gibt hier eine Art Umsteigestation. Das Busnetz endet, und man kann mit privaten Shuttlebussen der Gastgeber in den Kurort fahren, oder muß sich ein normales Taxi nehmen. Von hier aus, scheint es mir, will einen jeder hoch in den Kurort bringen. Na ja, denke ich, hier will man auch nur so schnell wie möglich wieder weg. Der Ort liegt schon etwas höher aus dem Tal heraus an einem Berghang. Die vier bis sechsgeschossigen dunkelgrau verkleideten Wohnklötze erinnern eher an Vorstadtghettos, und wirken hier völlig deplaziert. Ich treffe zufällig auf ein älteres Ehepaar, daß mit ihrem Auto auf dem Weg in den Kurort ist. Sie bieten mir an mich mit zu nehmen, und ich steige ein. Die beiden fahren schon seit vielen Jahren zur Kur dort hoch, und finden es prima. Ich frage die Beiden, ob es nicht auch einen Wanderweg nach oben gibt. Doch natürlich, den gibt es, aber das dauert Stunden bis man oben ist. Und der ganze Weg geht nur durch den tiefen Wald über Stock und Stein. Ich bin fasziniert, und entschließe mich, am Fuße des Berges, dort wo der Wanderweg beginnt auszusteigen. Das Ehepaar findet es ganz taff von mir, daß ich laufen will. Wir verabschieden uns, während sich viele Autos den Berg herauf wälzen. Ich erinnere mich, daß die Leute an der Umstiegstation gesagt hatten, hier könne man unmöglich zu Fuß hoch gehen. Das wäre viel zu weit und viel zu schwierig. Und außerdem alles durch den tiefen Wald. Ich bin doch bergerfahren, da wird mir so ein Hügel jawohl nichts ausmachen, denke ich, und gehe los. Der Wald ist eindrucksvoll. Alte hohe Bäume. Zwischendurch doch mal ein Felsen. Der Weg ist sehr schön, und geht steil bergan. Am Abend erreiche ich die Stadt. Ich hatte mich nicht besonders beeilt, denn das hier ist keine alpine Gegend. Man kann auch abends noch unterwegs sein. Ich bleibe stehen, und stutze. Was habe ich jetzt eigentlich vor? Was wollte ich denn hier oben? Hm. Ich weiß es schon. Urlaub machen. Aber irgendwie habe ich Alles während meines Waldspaziergangs vergessen. Obwohl, da war die ganze Zeit ein bestimmtes Gefühl, als ich unterwegs war. Ein bestimmtes Gefühl, warum ich da hoch in die Stadt muß. Etwas rätselnd mache ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft, und lande in dem wunderschönen Plattenbaumotel. Die Gänge sind in einem funktionalen Beige gehalten. Der gleiche Farbton in den Zimmern. Alles schlicht, aber auch klar und nüchtern. Einen Fernseher gibt es nicht auf dem Zimmer, aber im Aufenthaltsraum. Ich setze mein Gepäck ab, und gehe flanieren. Auf die Promenade, genieße die Aussicht. Begutachte durch die Scheibe die Schwimmkünste der Wellnessbadbesucher. Irgendwann komme ich wieder in mein Zimmer, und packe einige Sachen in den Schrank, und in eine Schublade, die ich darauf wieder verschließe. Danach lege ich mich schlafen. Ich träume irgendeinen Kauderwelsch, und wache am nächsten Morgen etwas gerädert auf. Als ich aufstehe und mich anziehe, sehe ich, daß die Schublade, in die ich meine Sachen gepackt hatte offen steht. Ein bisschen erschrocken überprüfe ich ob etwas fehlt, und die Zimmertür geschlossen ist. Alles in Ordnung. Tür verschlossen, und es fehlt nichts. Na ja, anscheinend habe ich die Schublade doch nicht zu gemacht, denke ich, und gehe in den Frühstücksraum. Den Tag über lasse ich es mir gut gehen in dem Kurort, und genieße meinen Urlaub. Als ich abends zurück in mein Zimmer komme, stimmt irgendetwas mit meinem Kopfkissen nicht. Es liegt anders, als ich es zurückgelassen habe. Da es keinen täglichen Zimmerservice gibt, dürfte niemand drann gewesen sein. Hm. Das kommt mir doch Alles ein bisschen komisch vor. Während ich noch rätselnd vor meinem Bett stehe, wird das Fenster von außen aufgedrückt. Eine Gestalt springt herein, und stürzt sich auf mich. Ich falle zu Boden. Der Angreifer auch. Wir ringen miteinander. Immer wieder greift er mich an, bis es irgendwo einen lauten Donner gibt. Die Welt zerbricht.
Knallend wurde Jonson aus dem Schlaf gerissen. Den Regen hörte er immer noch auf das Zelt prasseln. Der Himmel leuchtete kurz auf, und danach kam Gewittergrollen. Unbeeindruckt drehte Jonson sich auf die Seite, und zog die Schlafsackkapuze über den Kopf. Durch den dicken Daunenschlafsack drang kein Laut mehr. Jetzt hätte die Welt untergehen können, und Jonson hätte einfach weiter geschlafen. Ist klar, daß hier kein Mensch hin will, dachte er, und dämmerte langsam wieder in das Reich der Träume. Er wußte auch, daß er dringend nochmal dort hin mußte, und dort irgend etwas wichtiges zu erledigen hatte. Aber wie das Leben so spielt, kamen jetzt nur Träume von überfluteten Bergwiesen. Jonson hatte das Gefühl, sein Zelt stünde auf einem Floß, und das Floß schaukelte auf einem See hin und her. Nach einiger Zeit fiel er doch noch in den Tiefschlaf.
Die Faust landet brutal in meinem Gesicht. Mit den Füßen schaffe ich es soeben den Angreifer zurück zu drängen. Es gelingt mir danach, ihn im Gesicht zu treffen. Langsam gewinne ich Oberwasser. Ich versuche ihn festzuhalten, und schreie, was willst du? Jetzt erst kann ich den Angreifer näher erkennen. Er ist nicht sehr groß, und auch nicht sehr breit. Eher klein, aber scheinbar drahtig. Woher er die Kraft für solche Schläge nimmt ist mir ein Rätsel. Schlangenmenschengleich entwindet er sich meinem Griff, tritt mir noch kurz vor das Schienenbein und hechtet zum Fenster. Das wirst du nie erfahren, ruft er, und springt hinaus. Ich stürze an das Fenster, und sehe ihn im Wald verschwinden. Ziemlich verdattert bleibe ich am Fenster stehen, bis ich es schließe, und mich lädiert wie ich bin auf das Bett fallen lasse. Was wollte der? Und wieso soll ich das niemals erfahren? Diese Nacht, scheint es, finde ich keinen Schlaf. Stundenlang grübelnt liege ich wach. Bis ich doch irgendwann eingeschlafen sein muß. Draußen ist es schon wieder hell. Ich stehe auf, und sehe daß die Schublade schon wieder offen steht. Erschrocken sehe ich nach, ob das Fenster geschlossen ist. Alles gut. Hm. Und es fehlt wieder nichts. Ach rutscht mir doch alle den Buckel runter, denke ich, und gehe frühstücken. Im Frühstücksraum sehen mich einige Leute ganz mitleidig an. Kein Wunder. Die Auseinandersetzung, und die durchwachte Nacht haben Spuren hinterlassen. Erstmal Kaffee. Vom Buffet her duftet es nach frischen Brötchen. Ich greife zu. Während ich mein Brötchen esse, und gedankenverloren durch die großen Panoramafenster des Frühstückraumes blicke, nähert sich ein Mann meinem Tisch. Es ist der Mann, der mich, zusammen mit seiner Frau, bei der Anreise mitgenommen hatte. Guten Morgen, sagt er, sie sehen so verdattert aus. Hatten sie auch Ärger mit Jemandem? Verwundert schaue ich ihn an und frage, wieso? Es gibt hier wohl neuerdings Jugendbanden, die den Ort unsicher machen, antwortet er. Sie hätten es gestern selber auf der Promenade erlebt, erzählt er. Auch von den anderen Gästen, und sogar von den Angestellten hatten sie es gehört. Einer von denen muß wohl eher aus dem Zirkus sein, sage ich, und berichte von den Erlebnissen auf meinem Zimmer. Der Mann sieht mich erschrocken an, und sagt, sie wären nur beschimpft, aber nicht körperlich angegangen worden, und das, was ich erlebt hätte, täte ihm sehr Leid. Wir wünschen uns gegenseitig, trotz der widrigen Umstände, einen schönen Urlaubstag. Jugendbanden, davon lassen wir uns nicht den Urlaub verderben.
Ich beschließe, heute mal in das Wellnessbad zu gehen. Das wird mir gut tun. Nach vielen Schwimmrunden im Innen- und im Außenbecken, gehe ich zu den Saunen. Es scheint gerade nicht viel los zu sein. Die erste Tür ist verschlossen. Ich versuche es an der nächsten Tür. Sie läßt sich öffnen. Dahinter ist jedoch keine Sauna, sonder ein Gang mit mehreren Türen, die dann in die betreffende Sauna führen. Als ich den Gang betrete, sehe ich ich weiter hinten einen Mann, sich erschrocken umdrehen, und hastig einem anderen Mann etwas zustecken. Ich beachte die Beiden nicht, und gehe in die erste Sauna. Nach etwa zwanzig Minuten verlasse ich sie wieder. Zwei, in Handtücher gehüllte Frauen kommen mir in dem Gang entgegen. Als ich an der Außentür bin, sehe ich, daß etwas auf dem Boden liegt. Ich bücke mich, um es aufzuheben. Es ist ein Stofftaschentuch der edlen Art. „Gehört das ihnen?“ frage ich die beiden Frauen. „Nein, ist nicht von uns.“ Sie schütteln beide mit dem Kopf. Ich schaue mir das Taschentuch genauer an. In einer Ecke sind Initialen eingestickt. J.S. lese ich, und beschließe, das Taschentuch mitzunehmen. Der Mann vom Frühstück, mit seiner Frau, kennt hier oben so ziemlich Jeden. Vielleicht wissen die ja, wer J.S. ist. Von der Sauna so richtig träge geworden, schländere ich ganz langsam über die Promenade und steuere auf eine schöne Aussichtsbank zu. Mein Blick wandert zuerst in die Ferne, auf die bewaldeten Höhen gegenüber, und dann, direkt vor mir nach unten. Die Promenade ruht auf einer mächtigen Mauer. Hoch, wie eine Burg. Zwölf Meter tiefer endet sie auf einem grünen Abhang, der einige Meter weiter im Wald verschwindet. Ich beginne den Ort zu lieben. Die Stadt strahlt Sicherheit aus. Alles ist befestigt. Die Gebäude bieten Schutz vor Wind und Wetter. Man kann sogar, wenn draußen Schnee liegt, drinnen im Warmen schwimmen gehen. Das bietet die Stadt. In diesem Kururlaubsgefühl gehe ich richtig auf, und tanke Kraft. Der Tag bleibt ruhig. Von marodierenden Jugendbanden ist nichts zu sehen. Es spricht auch niemand davon. Ich gebe mich mit der Erklärung zufrieden, und vergesse die seltsamen Geschehnisse der letzten Nacht.
Gut erholt erreiche ich abends mein Motel. Der Gang zwischen den Zimmern liegt in seiner nüchternen Art vor mir. Irgendetwas beeindruckendes geht von diesem Motel aus. Ich sehe das Fenster. Es ist ein ganz normales Kunststofffenster, wie in jedem gewöhnlichen Haus. Nichts besonderes. Aber dennoch strahlt es, zusammen mit dem Gang etwas aus. Mein Blick wandert auf ein kleines Schränkchen. Ich verspüre den unheimlichen Drang hinein zu sehen, und öffne eine der beiden kleinen Schranktüren. Der Schrank ist bis auf ein Blatt Papier leer. Ich nehme es heraus. Es ist ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier. Die Rückseite ist auch unbeschrieben. Das hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten, denke ich. Vielleicht haben die ja hier ihr Druckerpapier aufbewahrt. Unwahrscheinlich. Vielleicht unsichtbare Tinte, frage ich mich, und halte das Blatt Papier gegen das Licht. Mich beschleicht das Gefühl, es hier mit etwas Wichtigem zu tun zu haben. Nachdenklich nehme ich das Blatt mit, und gehe in mein Zimmer. Mein erster Blick fällt auf die Schublade. Sie ist geschlossen. Der zweite Blick geht an das Fenster. Es ist auch geschlossen. Beruhigt ziehe ich meine Jacke aus, und setze mich an den kleinen Tisch im Zimmer. Das Blatt lasse ich dabei nicht aus den Augen. Erst jetzt wandert mein Blick herüber zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke des Zimmers. Sofort springe ich wütend auf, und stürme auf die Gestalt von gestern Abend los, die lässig an meinem Waschbecken lehnt. Der Typ streckt mir abwehrend die Hände entgegen, und reißt den Mund auf. Aber kein Laut kommt daraus hervor. Sein Gesicht sieht seltsam verzehrt aus. Heute macht er gar keinen frechen Eindruck mehr, sondern eher einen jämmerlichen. Sein Körper sieht irgendwie zähflüssig aus. Zumindest nicht klar definiert. Ich versuche ihn an den Schultern zu packen, die sich anfühlen wie Schaumstoff, der mit flüssigem Teer übergossen ist, und dann einfach vor mir auf den Boden fließen. Mir wird schwindelig. Vor mir ist ein klebriger Teerfleck am Fußboden. Plötzlich wird aus diesem Teerfleck wieder die Gestalt, wie sie am Waschbecken lehnt. Ich mache einen Schritt zurück. Die Gestalt macht wieder den Mund auf. Aber kein Laut kommt heraus. Kein Zweifel, es ist der Typ von gestern. Jetzt scheint der Körper etwas genauer definiert. Nicht mehr so flüssig. Er streckt den Arm aus, und zeigt auf das leere Blatt Papier. Dann faßt er sich mit beiden Händen an den Kopf. „Was ist mit dem Blatt?“ rufe ich. Er macht den Mund auf, scheint etwas zu sagen, aber wieder ist nichts zu hören. Ratlos schaue ich auf das Blatt. Der Aufstieg durch den Wald vom ersten Tag fällt mir wieder ein. Da war doch irgendetwas. Es hat doch einen Grund, warum ich hierher gekommen bin. Einen wichtigen Grund. Einen sehr wichtigen. Ich schaue noch einmal auf die Gestalt. Die Körperfarbe hat sich wieder in ölig schwarz verändert. Jetzt wird der ganze Körper transparent, und man sieht Bäume und andere Pflanzen hindurch schimmern. Irgendetwas passiert. Ich spüre einen Sog, ein Rauschen, immer lauter werdend. Ich werde in irgendetwas herein gerissen, obwohl ich spüren kann, daß ich auf der Stelle stehe. Und irgendetwas wird in mich hinein gerissen. Es ist eine gewaltige Kraft zu spüren, wie ein Wirbelsturm. Ich spüre, daß ich in diese Gestalt herein gerissen werde, und diese Gestalt in mich hinein gerissen wird. Wir werden eins. Dann öffne ich das Fenster, springe heraus, und laufe so schnell ich kann in den Wald. Hier bin ich zu Hause. Er bietet mir Schutz, Unterkunft, Nahrung und alles was nötig ist. Es geht mir gut.
Ich wache auf, und habe Kopfschmerzen. Mein Bett sieht aus, als hätte ich mit einer Horde Elefanten gekämpft. Mühsam schleppe ich mich in das Badezimmer. Beim Frühstück treffe ich wieder auf den älteren Herren mit seiner Frau. Er erzählt mir, daß die Jugendbande wohl im Restaurant eine halluzinogene Droge in das Essen getan hätte, und die ganze Stadtbevölkerung letzte Nacht seltsame Dinge erlebt hätte. Ob ich auch dort essen gewesen wäre, und was ich denn erlebt hätte. „Ja ich war auch dort, und habe etwas seltsam geträumt, aber nicht so schlimm“, antworte ich. Von dem Blatt Papier erzähle ich nichts. Nach dem Frühstück gehe ich wieder auf mein Zimmer, und sehe nach, ob es noch auf dem Tisch liegt. Nach dem Aufstehen hatte ich gar nicht darauf geachtet. Es liegt noch immer dort, stelle ich fest. Ich sehe mir das Blatt noch einmal genauer an, kann aber absolut nichts ungewöhnliches oder verstecktes daran finden. Dennoch weiß ich, daß es wichtig für mich ist. Und mir fällt wieder ein, daß ich hier eine Aufgabe zu erledigen habe. Vonwegen Urlaub. Ich bin doch kein Tourist. Es ist wohl eher eine heikle Mission in einer prekären Lage, ausgelöst durch internationale Beben, die das Weltgefüge ins Schwanken bringen. Der Frieden ist etwas gewichen, daß einem Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden ähnelt. Und es gibt sehr wichtige Dinge zu erledigen. Es geht nicht darum, was auf dem Blatt Papier drauf steht. Es geht um das, woraus es besteht. Ich muß dieses Blatt von hier fort bringen. Sie warten darauf, und wollen durch chemische Untersuchungen einen neuen Werkstoff zusammensetzen, der es ihnen erlaubt die weiteren Geschehnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Ich muß es ihnen nur bringen. Aber es hat nicht grundlos im Schrank gelegen. Es war dort für irgendwen abgelegt worden. Und der, oder diejenigen werden es haben wollen. Ich frage mich, warum über Nacht Nichts passiert ist. Warum es sich keiner geholt hat. Ist es vielleicht nicht das richtige Blatt? Was soll ich tun? Es ihnen bringen, ohne genau zu wissen, ob es das Richtige ist? Oder weitere Nachforschungen anstellen? Ich muß wissen, wer noch hinter dem Blatt her ist, und wer noch über die Möglichkeiten verfügt, etwas damit anzufangen. Es ist von immenser Wichtigkeit dies herauszufinden. Ich lasse das Blatt auf dem Tisch liegen, und verlasse das Zimmer. Wie sonst auch, schlendere ich über die Promenade, und gehe durch die Geschäftsstraße. Vor einem Schreibwarenladen bleibe ich stehen. Mir kommt eine Idee, wie ich meine Gegner aus der Deckung hervorlocken könnte. In dem Laden erstehe ich ein Paket weißes Druckerpapier, und ein paar Kugelschreiber. Damit mache ich mich auf den Weg zum Motel. Dort angekommen, setze ich mich in den Aufenthaltsraum, und beginne irgendetwas auf das Druckerpapier zu schreiben. Nach einiger Zeit kommt zufällig der ältere Herr vorbei, und fragt mich, was ich denn so eifrig schreibe? Ich erzähle ihm, daß ich von der ganzen Atmosphäre hier oben so angetan bin, daß ich es jetzt mit einer Art Poesie versuche. Das findet er natürlich super, und zieht vondannen. Nach zwei Stunden gehe ich auch nach oben, innerlich merklich angespannt. Den Stapel Druckerpapier unter dem Arm, öffne ich meine Zimmertür. Das Blatt liegt noch auf dem Tisch. Niemand ist da. Ich schaue in alle Ecken, und will gerade das Druckerpapier auf den Tisch legen, als ich eine Pistole an meiner Schläfe spüre. „Nicht bewegen!“ höre ich. Ich erstarre. Da ist sie wieder. Die Gestalt. Steht jetzt direkt vor mir, und zielt mit einer Waffe auf mich. Diesmal nicht verschwommen oder flüssig. Ich sehe auch nichts ölig teeriges, sondern nur ein grimmiges Gesicht in einer kleinen, aber sehr drahtigen Gestalt. Er greift nach dem Blatt Papier auf dem Tisch, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. „Na, ob es das wohl ist?“ frage ich bedeutungsschwer, und sehe abwechselnd zu dem Blatt in der Hand des Mannes und dem Druckerpapier. Er zögert. „Gib mir das!“ fordert er. Ich halte ihm den Stapel Druckerpapier hin. Er scheint verunsichert. Ich sehe ihn förmlich überlegen. Die Seite für die er arbeitet ist nicht zimperlich soweit ich weiß. Kehrt er mit leeren Händen zurück, oder bringt das Falsche mit, dann droht ihm wahrscheinlich ein schlimmes Schicksal. „Tja, welches Blatt ist das Richtige?“ provoziere ich ihn, und scheine Erfolg zu haben. Er kann mit der Pistole nicht weiter auf mich zielen, weil er das Druckerpapier nehmen muß. Das ist meine Chance. Die Hände noch an dem Papierstapel, schlage ich ihm damit die Pistole aus der Hand. Er verliert sie auch, und ich sehe zu, daß ich den Stapel festhalte. Gerade will ich nochmal zuschlagen, als ich etwas festes in die Magengrube bekomme, und zusammenknicke. Dabei fällt mir das Druckerpapier doch aus der Hand, und verteilt sich im Raum. Ich kann den Gegner gerade noch am Bein festhalten, als er über mich hinweg springen will, anscheinend um den Raum zu verlassen. Er strauchelt, und fällt auch hin. Dabei läßt er das einzelne Blatt fallen. Ich stürze mich auf ihn. Mit unheimlichen Schlägen traktiert er meinen Kopf. Ich muß ausweichen, und lasse ihn los. Gehe dann aber zum Gegenangriff über. Keiner von uns kann den Anderen besiegen. Nach kurzer Zeit sitzen wir uns schnaufend gegenüber. Jeder von uns Beiden muß sich ausruhen. Es ist wie ein Agreement, eine Art Waffenstillstand. In dem entstandenen Chaos läßt sich nicht mehr feststellen, welches Blatt das Richtige ist. Das gesamte Druckerpapier liegt weit verstreut im Zimmer, und das einzelne Blatt irgendwo dazwischen. Ich verzweifele. Mein Plan ist nicht aufgegangen. Jetzt das richtige Blatt finden. Ich krieche über den Boden, und nehme jedes einzelne Blatt in die Hand. Der andere macht das Gleiche. Ansonsten beachten wir uns gar nicht mehr. Es hat aber keinen Sinn. Welches Blatt richtig ist, läßt sich nicht mehr sagen. Wir wissen Beide nicht, was wir jetzt tun sollen. Plötzlich betritt eine dritte Person aus dem Badezimmer kommend den Raum. Eine hünenhafte Gestalt. Mit gleichgültiger Mine stellt er seinen Fuß auf eines der Blätter. Der kleine Drahtige versucht das Bein von dem Hünen wegzuziehen. Der haut ihm nur einmal auf den Kopf, und der Kleine bleibt liegen. Ich springe auf, und will gerade nach dem Stuhl greifen, um ihn gegen den Hünen einzusetzen, als dieser mich einfach hochnimmt, und gegen die Wand schmeißt. Ich merke, wie das Licht ausgeht.
Jonson mußte so dringend seine Blase entleeren, daß er einfach nicht mehr weiterschlafen konnte. Alles sprach eigentlich dafür, sich nochmal umzudrehen. Draußen praßelte immer noch, oder schon wieder der Regen gegen sein Zelt. Er hatte auch überhaupt nichts Wichtiges vor. Was könnte auch schon so wichtig sein, daß man sich bei so einem Wetter vor die Tür bzw. das Zelt wagt. Aber es mußte wohl sein. Na gut, auf und hinaus. Einladend war es draußen wirklich nicht. Die Pfützen standen bis dicht an das Zelt heran, und wurden weiterhin von oben genährt. Jonson hatte Schwierigkeiten den Spirituskocher in Gang zu bringen. Dann gelang es ihm aber doch, und er stellte einen Topf mit Wasser auf den Kocher. Während er auf sein Kaffeewasser wartete, ließ der Regen etwas nach. Aber dafür zog die kalte Morgenluft jetzt in seine Kleidung. Jonson begann mit den Füßen herum zu trampeln, um sich aufzuwärmen. Bald kochte das Wasser, und er konnte sich seinen Frühstückskaffee aufgiessen. Allmählich wurde der Himmel etwas freundlicher. Rauchend und Kaffetrinkend stand er dann auf der morastigen Wiese, und bestaunte die Felswände um das Tal herum.
Er entschied auf die Karte zu sehen, ob es nicht doch irgendetwas in der Umgebung gab. was sich nutzen ließe. Da waren ja doch Häuser eingezeichnet. Gar nicht so weit weg von hier. Zwei Kilometer das Tal herunter. Man mußte nur um diesen gegenüberliegenden Berg herum. Das scheint ja ein richtiger Ort zu sein, dachte Jonson, und sah sich schon gegen Mittag in einem Straßencafe sitzen, und Omelette futtern. Also packte er sein Zelt zusammen, und marschierte los. Nach einiger Zeit waren tatsächlich Wegspuren zu sehen. Das Tal wurde etwas enger. Der Bach hatte mittlerweile doch ein Bett. Und was für eins. Mit wuchtigem Rauschen donnerte er über Felsstufen tiefer. Hier konnte er wirklich nicht mehr überquert werden. Dann wich der Berg etwas zurück, und gab dem Tal wieder mehr Platz. Der Weg verlief in einer weiten Kurve um den Berg herum auf eine niedrige Bruchsteinmauer zu. Dahinter waren die ersten Häuser zu erkennen. Sie bestanden auch aus Bruchsteinen. Der Weg ging zwischen ihnen weiter, blieb aber unbefestigt. Menschen waren noch nicht zu sehen. Jonsons Hoffnung auf ein Straßencafe schwand dahin. Er erreichte die ersten Häuser, und sah, daß sie verlassen waren. Der Weg zwischen den Häusern führte in eine Art Dorfzentrum mit einem kleinen Dorfplatz. Die Häuser waren alle aus Bruchsteinen, und sahen sehr alt aus. Menschen waren nirgendwo zu sehen. Also kein Omelette, dachte Jonson. Er setzte den Rucksack ab, und sah sich die Gebäude näher an. Eigentlich suchte er nur eine Bank. Es wäre einfach die Erleichterung, mal nicht auf dem Boden sitzen zu müssen. Eine Sitzbank, vielleicht vor einer Hütte, mit etwas Vordach, daß noch Schutz vor dem Regen böte, mit einer Hauswand, die vor Wind schützte, daß wäre schon wirklich ein Segen. Aber nichts der Gleichen fand Jonson. Die Steinhäuser boten außen überhaupt keinen Komfort, und waren allesamt verschlossen. Sich gewaltsam irgendwo Zutritt verschaffen, wollte Jonson nicht. Auch wenn er hier weit draußen in der Einsamkeit war, so achtete er fremdes Eigentum, und benutzte höchstens die besagten Bänke vor den Hütten, die ja auch normalerweise frei zugänglich waren. Etwas frustriert nahm Jonson sein Gepäck, und verließ das Dorf wieder. Das Tal lag hier immer noch auf mehr als 2200 Metern Höhe. Bis zum Talende, daß Jonson am Abend davor gesehen hatte, stieg es noch auf 2300 Meter an. Die Berge drumherum waren bis zu 3500 Meter hoch. Unterhalb des Dorfes vereinigte sich das Tal mit einem weiteren Seitental. Der an sich schon beeindruckende Bach wurde noch größer, und donnerte mächtig über Felsstufen herab. Der Weg aus dem Dorf heraus führte erst mal in das Seitental hinein, und runter an den Bach, an eine Stelle, wo man ihn noch überqueren konnte, und dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder in die Gegenrichtung berghoch. Nach einem steilen Anstieg traf er dann auf eine richtige Forststraße, die an diesem Berghang aus dem Seitental kam, und dann weiter in Jonsons einsames Tal herunter führte. Bis zu dieser Forststraße war es schon mühsam. Erst runter an den Bach, dann wieder rauf, und alles mit fast 20 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken. Als Jonson die Forststraße erreicht hatte, und das Steindorf gegenüber in nur wenigen hundert Metern Entfernung sah, war er enttäuscht, noch nicht wirklich weiter gekommen zu sein. Er entschied sich, das Tal weiter herunter zu wandern, und es weiter unten doch mal wieder mit Zivilisation zu versuchen. Zumindest ein Zimmer und eine gute Mahlzeit wären doch prima. Die Forststraße zog sich über zwanzig Kilometer immer tiefer herunter. Rechts und links von steil aufragenden Bergwänden umgeben. Zu allem Überfluß setzte auch der Regen wieder ein. Jonson sah von links einen Wanderweg aus sehr großer Höhe in unendlich vielen Serpentinen auf die Forststraße zustoßen. Den hätte ich auch von oben nehmen können, anstatt der Schotterrinne, dachte Jonson. Aber dann wäre ich nicht zu diesem einsamen Talende gekommen, und der Weg sah auch sehr anstrengend aus mit seinen vielen Serpentinen. Er ging auf der Forststraße weiter talabwärts. Mittlerweile hatte die Vegetation wieder eingesetzt. Aus einzelnen Bäumen wurde Wald, um so tiefer Jonson kam. Bis zum nächsten Ort waren es immer noch mehrere Stunden zu gehen. Es war früher Abend, als Jonson das untere Talende erreichte. Vor ihm lag, quer verlaufend, ein etwas größeres Tal mit einer kleinen Ortschaft, die nur aus wenigen Häusern bestand. Weiter rechts endete dieses größere Tal auch schon wieder an einem leichten Zweitausender. Nach links zog sich das Tal abwärts. Die Straße durch das Tal endete nicht, sondern ging als Passstraße über den Zweitausender in das nächste Tal. In der kleinen Ortschaft nahm Jonson sich ein Zimmer in einem gemütlichen Gasthof. Es war nicht viel los. Jonson hatte für seine Wanderung eine Zeit gewählt, in der nicht viele Touristen die Berge besuchten. Nachdem er sein Zimmer bezogen hatte, ging Jonson in den Gastraum. Er setzte sich an die Theke, und bestellte ein Bier. In einer Ecke prasselte ein gemütliches Kaminfeuer. Kurz darauf betrat ein Einheimischer den Raum, und setzte sich auch an die Theke. „Dieses ganze Geschwafel von dem Klimawandel“ begann er „wir hatten doch kaum Schnee. Ist doch alles Quatsch, was die erzählen“ fuhr er fort. Jonson wunderte sich etwas über diese Sichtweise, hörte aber brav zu, und sagte nur: „Hm“. „Hier ist noch alles in Ordnung. Wir tun unser Holz in den Kamin, und haben es schön warm. Das mögen auch die Touristen“ sagte der Einheimische. „Ja, so ein Kaminfeuer ist schon wirklich gemütlich,“ antwortete Jonson, und hatte dabei aber die Bilder von untergehenden Inseln in der Südsee vor Augen. Hatte es in seinem Heimatland nicht letztes Jahr auch diese Starkregenkatastrofe gegeben, die sogar weit mehr als einhundert Menschen das Leben gekostet hatte? Im Moment war das Alles so weit weg, als wäre Jonson schon seit Jahren unterwegs gewesen. Dabei wanderte er erst seit gut einer Woche über die Berge. Der Einheimische wetterte noch etwas weiter über die jungen Menschen, die einfach einen Rembrandt mit Tomatensoße beschmeißen, und sich anschließend festkleben würden, und wohl vor gar nichts mehr Achtung hätten. Jonson versuchte ihm zu erklären, daß es anderswo auf der Welt doch ziemlich erschreckende Veränderungen gab, und er es verstehen könnte, daß Menschen bereit waren, einzigartige Bilder zu zerstören, weil draußen das größte Kunstwerk, nämlich unsere Umwelt von uns zerstört würde. Der Einheimische meinte, daß wäre eben der Preis für den Fortschritt, und es würde schon nicht so schlimm werden. Die Natur sei stärker, als das was der Mensch ihr antun könnte. Und außerdem könnten ja alle Menschen im Urlaub hierhin, oder in ähnliche Regionen kommen, und die unverbrauchte ursprüngliche Umgebung zur Erholung benutzen, um dann mit frischer Energie wieder in ihr Arbeitsleben zurück zu kehren. Etwas ratlos zuckte Jonson mit den Achseln, und sah den Einheimischen zweifelnd an. „Na ja, hier ist ja auch Zivilisation. Es gibt eine Straße, die hier hin führt, und sogar über das Talende hinaus, auf den Zweitausender, und wohl auch darüber hinweg.“ wandte er ein. „Ach was, daß geht nur jede halbe Stunde“, antwortete der Einheimische. „Dann ist wieder der Gegenverkehr an der Reihe, und hier am Talende geht es nicht mehr weiter. Und im Winter wird die Passstraße komplett gesperrt. Dann ist hier wirklich das Ende der Zivilisation,“ erläuterte er. Dabei bräuchten sie die Autos, die halbstündlich von der anderen Seite den Pass herunterkämen. Außer mit Tourismus gäbe es hier kaum eine Möglichkeit Geld zu verdienen. Die wenigen Flächen, die sich für Ackerbau und Viehzucht eignen würden, reichten nur für einige wenige Bauernfamilien. Alle anderen jungen Menschen würden die Gegend verlassen, oder müßten sich einen Job in den Tourismusbetrieben suchen, erzählte der Einheimische weiter. Mit viel Verständnis für das Bergleben, aber auch Beharrlichkeit für seine eigene Position, versuchte Jonson den Einheimischen noch einige Biere weiter vom Klimawandel zu überzeugen. Doch das gelang ihm nicht. Der Wirt hinter dem Bartresen hatte den ganzen Abend nicht eine Mine verzogen. Als der Einheimische in den Raum gekommen war, meinte Jonson kurz etwas Betretenes, fast Entschuldigendes im Gesicht des Wirtes zu entdecken. Ansonsten zeigte dieser den ganzen Abend keine besondere Regung. Er bediente seine beiden Gäste gleich freundlich, und zeigte sich jovial und zurückhaltend. Es kam Jonson aber so vor, als wolle der Wirt sich für die Worte des Einheimischen entschuldigen. Eine Weile schwiegen sie, bis die Tür aufging, und ein Mann herein kam. Er grüßte, und setzte sich an einen der leeren Tische. Der Wirt brachte ihm die Speisekarte. Draußen wurde die Abenddämmerung von dunklen Wolken verschluckt, die sich auch ziemlich schnell in Form von starkem Regen auf den Boden ergossen. Über dem Pass zuckten die ersten Blitze. Es sah ziemlich nach Weltuntergang aus. Jonson fragte den Einheimischen neben ihm an der Theke, ob es hier oft so ein schlechtes Wetter gäbe. „In den Bergen kann sich das Wetter schnell ändern“, antwortete dieser. „Aber wir haben auch sehr oft schönes Wetter, müssen aber immer mit Allem rechnen,“ versuchte er seine Gegend nicht als Schlechtwetterloch dastehen zu lassen. Jonson berichtete, wo er den letzten Abend gezeltet hatte, und daß es auch kräftig gegossen hätte, und von diesem verlassenen Dorf. „Ja, dass wurde schon im Jahr 1200 aufgegeben“ sagte der Einheimische: „Zu mühsam dort oben, und es gibt ja nichtmal einen Baum.“ „Aber wunderbar ist es schon in dieser einsamen Gegend. Manche nennen es Kleintibet,“ griff der Mann am Tisch in unser Gespräch ein. Jonson pflichtete ihm bei. Der Mann erzählte, daß man auch oben, über Bergwiesen, unterhalb der Gipfel entlang dort hin käme. Zwar weglos, aber begehbar. Jonson hörte fasziniert zu. So unterhielten sich Alle noch eine Weile, und es wurde ein schöner Abend. Sogar der Wirt erlaubte sich mal ein freundliches Lächeln. Der Mann am Tisch hatte schon lange gegessen, als die Tür noch einmal aufging, und ein durchnäßter Wanderer im Regenzeug mit großem Rucksack auf, den Raum betrat. Es tropfte von ihm herab, und er fragte, ob es noch etwas zu essen gäbe, und er ein Zimmer bekommen könnte. Der Wirt sagte, daß mittlerweile Küchenschluss sei, aber es gäbe vielleicht noch irgendeine einfachere Mahlzeit für hungrige Wanderer. Und freie Zimmer habe er im Moment genügend. Der Fremde checkte ein, und bestellte das was sich noch machen ließe. Mittlerweile in trockener Kleidung setzte er sich an einen der leeren Tische, und studierte eine Wanderkarte. Die Anderen unterhielten sich weiter, und tranken noch ein Bier.
Oben, über den Bergwiesen zuckten immer noch die Blitze. Von den Menschen im Tal unbemerkt schlug einer dieser Blitze an einer ausgesetzten Stelle in die Felsen ein. Von der Wucht des Blitzschlages wurde der ausgesetzte Felsen auseinander gerissen, und verteilte sich in Form von vielen kleineren und größeren Steinen auf dem Abhang unter ihm. Das ein Blitz einen Felsen derart zerstörte, war eine absolute Seltenheit. Es mußte sich schon etwas metallisches im Innern des Felsen befinden. Und tatsächlich, durch manche der Steinbrocken schimmerte es silbrig glänzend hervor.
Jonson wünschte den Anderen in der Gaststube eine gute Nacht, und ging auf sein Zimmer. Es lag im zweiten Stock. Über seine Balkontür hatte er Zugang zu einer rund um das Haus verlaufenden Veranda, die von allen Zimmern auf seiner Etage betreten werden konnte. Jonson ging auf die Veranda, und drehte sich eine Zigarette. Während er rauchte, betrachtete er die mächtigen Holzbalken der Dachkonstruktion über ihm. Auch die Veranda wurde von mächtigen Holzbalken getragen. Das ganze Haus machte einen überaus soliden Eindruck, wie es auch in den Bergen üblich war. Nach ein paar Minuten ging in einem der anderen Zimmer das Licht an. Jonson wollte gerade seine Zigarette ausdrücken, und herein gehen, als in der Ferne ein Licht aufblitzte. Er sah genauer hin, und es schien ihm, als ob dort hinten am Berghang Menschen mit Lampen unterwegs wären. Ein bischen spät, dachte er, und ging schlafen. Mal wieder in einem richtigen Bett schlafen, und in einem richtigen Haus, noch dazu mit diesen soliden Dachbalken. Die Verhältnisse der Berge verstehend schlief er ein.
Als ich wieder zu mir komme, steht der kleine Drahtige vor mir. Scheinbar ist er nicht nur zäh, sondern auch schneller wieder zu Bewußtsein gekommen, als ich. Von dem Hünen ist nichts mehr zu sehen. Aber der kleine Drahtige zielt nicht mit seiner Pistole auf mich, sondern reicht mir aufmunternd seine Hand, um mich hoch zu ziehen. „Du und ich. Partner,“ sagt er mit seiner doch ziemlich frech klingenden Stimme.“Wir können den nur gemeinsam besiegen. Danach wieder getrennte Wege,“ fordert er mich auf, hinter dem Hünen her zu jagen. Benommen reibe ich meine Schläfen und nicke. „Der große Mann will seinen Leuten in der Sauna das Blatt übergeben. Wir müssen es uns holen, bevor er sie trifft,“ sagt der Drahtige. „Und wie wollen wir das machen?“ frage ich. „Einer lenkt ihn ab, und der Andere schnappt sich das Papier,“ antwortet der Drahtige. „Ok, du lenkst ihn ab, und ich schnappe mir das Papier“, sage ich. Der kleine Drahtige lächelt undurchdringbar. Ich schaue ihn mißtrauisch an, und überlege, was mir anderes übrig bleibt, als mit ihm zusammen zu arbeiten. Alles in Allem weiß ich über meine eigenen Qualitäten jetzt wieder Bescheid. Ich bin gut ausgebildet, und brauche mich nicht vor Vielem zu fürchten. In der heutigen Zeit kann es sogar nötig sein, seine eigenen Leute mittels Hypnose, ihren Auftrag und ihre Identität vergessen zu lassen. Niemand kann verraten, was er nicht weiß. Das Heikle ist nur, dieses Wissen im richtigen Augenblick wieder hervor zu holen. Ziemlich harter Brocken, dieser Job. „Komm, wir müssen zu den Saunen im Wellnessbad“, reißt mich der Drahtige aus meinen Gedanken. „Ja, ok“, antworte ich, und verlasse mit ihm zusammen das Zimmer. Wir gehen zum Wellnesstempel, ohne zu reden. Am Saunabereich angekommen, will der Drahtige, daß ich mich in die hintere Sauna auf der linken Seite setze, und den Gang dabei im Auge behalte. Er selber setzt sich in die erste Sauna auf der rechten Seite, und behält ebenfalls den Gang im Auge. Nach ein paar Minuten geht die Außentür des Saunaganges auf, und zwei junge Mädchen kommen lachend in den Gang. Sie gehen, weiterhin herumalbernd, in die zweite Sauna auf der linken Seite. Eine Weile tut sich nichts. Dann steht plötzlich die hünenhafte Gestalt im Gang. Aber sie kommt vom Ende des Ganges her. Von da, wo überhaupt keine Tür ist. Der Hünenhafte steht direkt vor meiner Saunatür, und scheint auf etwas zu warten. In der Hand hält er ein weißes Blatt Papier. Er schaut den Gang herunter zur Eingangstür, und macht einen Schritt nach vorne. Ich reiße die Saunatür auf, und stürze in den Gang. Ein großer etwas übergewichtiger Mann im Handtuch dreht sich zu mir um. Ruhig öffnet er die Saunatür, hinter der die beiden jungen Mädchen verschwunden sind, und geht hinein. Das ist nicht der Hüne, denke ich, und schaue durch die Saunatür. Der Mann sitzt alleine in der Sauna. Es ist die zweite Sauna links, in die sich auch die Mädchen gesetzt hatten. Aber jetzt sitzt der Mann alleine dort. Wo sind die Mädchen geblieben? Wir hatten den Gang doch immer im Blick. Ich will zu dem kleinen Drahtigen, vorne in der ersten Sauna gehen. Aber er ist nicht da. Erschrocken gehe ich zu der Außentür des Saunabereichs. Sie läßt sich nicht öffnen. Durch ein kleines Sichtfenster sehe ich die beiden jungen Mädchen und den Drahtigen draußen Richtung Ausgang gehen. Sie lachen. Eines der Mädchen hält ein Blatt Papier über ihrem Kopf hoch, und tut so, als wollte sie es essen. Ich fasse wieder an die Türklinke. Sie läßt sich zwar herunterdrücken, aber die Tür sich nicht aufdrücken. Da bin ich wohl doch verarscht worden. Ich untersuche das Ende des Ganges. Wo doch der Hüne hergekommen sein muß. Aber der Gang endet dort einfach nur, und ist holzvertäfelt. Ich finde keine versteckte Tür. Irgendwann geht die Außentür zum Gang auf, und ein Saunagast kommt herein. Ich stürme auf ihn zu, und rufe, er solle die Tür nicht zufallen lassen. Doch es ist schon zu spät. Sie fällt wieder in das Schloss. Der andere Saunagast drückt die Klinke runter, und die Tür auf, und fragt mich was ich denn habe. Es ist doch alles in Ordnung. Als ich herauskomme sind die Mädchen und der Drahtige natürlich verschwunden. Missmutig gehe ich zum Motel zurück. Wo soll ich jetzt noch suchen? Ich treffe die Frau des älteren Mannes, die mich bei der Anreise mitgenommen hatten, und frage sie, ob sie zufälligerweise einen Mann mit zwei Mädchen gesehen hätte. „Ach der Asiate mit seinen Töchtern. Ja, die habe ich gerade gesehen, als sie in ein Auto stiegen, und weggefahren sind“ , erzählt sie. Ich höre nicht mehr bis zum Schluss zu, und renne nach draußen, und weiter bis zum Taxistand. Zum Glück steht dort auch gerade ein Taxi. Ich mache dem Taxifahrer klar, dass ich so schnell wie möglich in die andere, etwas größere Stadt muss. Es geht um Leben und Tod, und ich werde ihn fürstlich belohnen, wenn er nur ordentlich auf die Tube drückt, mache ich ihm klar. Er sieht die Scheine, die ich ihm zu überlassen bereit bin, in meiner Hand, und fährt rasant los. Alle Verkehrsregeln ignorierend rasen wir die Bergstraße herunter. In den Kurven quietschen die Reifen. Unterwegs überholen wir einige Autos. In Rekordzeit erreichen wir die Nachbarstadt. An der Umsteigestation sehe ich gerade noch eines der beiden Mädchen aus einem roten Kleinwagen steigen, und in einen dieser hässlichen Wohnblocks gehen. Ich bezahle den Taxifahrer, und renne zu dem Haus. Es gibt sechzehn Klingelschilder mit den verschiedensten Namen am Eingang, und zwei Schilder ohne Namen. Ich klingele an dem untersten Schild. Der Türöffner wird betätigt, und ich betrete das Treppenhaus. Eine Frau schaut aus ihrer Wohnungstür, und fragt mich, was ich denn möchte. Ich erzähle ihr, dass ich eine Wohnung suche, und hier die zwei leeren Klingelschilder gesehen habe. Ob man denn eine Wohnung mieten könnte, frage ich sie. „Ja, es stehen wohl welche leer,“ sagt sie, und will mir die Telefonnummer der Hausverwaltung geben. Ich erzähle ihr von meinen persönlichen Bedürfnissen, wodurch ich auch spezielle Anforderungen an eine Wohnung habe. „Es geht auch sehr um das Umfeld,“ sage ich: „Deswegen wollte ich erst mal selber gucken, ob mir das Haus zusagt.“ Ich frage sie, was für Menschen neben den leerstehenden Wohnungen leben, und erfahre, dass eine Wohnung erst kürzlich neu vermietet wurde. Alle anderen Bewohner leben schon sehr lange hier, und sind sehr freundlich. Man kenne sich untereinander. Nur die Neuen habe sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Ich lasse mir noch die Lage der leerstehenden Wohnungen beschreiben, bedanke mich ganz herzlich, und verabschiede mich. Als die Frau wieder in ihrer Wohnung verschwunden ist, drehe ich mich, schon im hinausgehen begriffen um, und gehe die Treppe wieder hoch. Die leerstehende Wohnung neben der erst kürzlich vermieteten Wohnung liegt im dritten Stock. Leise schleiche ich an der neu vermieteten Wohnung vorbei. Ohne ein Geräusch verschaffe ich mir Zutritt zur leerstehenden Wohnung daneben, und schließe die Tür wieder. Kein Teppich und keine Möbel dämpfen meine Schritte in der Wohnung. Also ziehe ich mir die Schuhe aus, und sehe zu, dass ich leise hineingehe. Jetzt muss ich nur noch wissen, was in der Nachbarwohnung vor sich geht. Kein Laut von dort dringt durch die Wände. Ich denke an die verschiedenen Spezialgeräte in Miniaturformat, die ich mit mir führe, und jetzt benötige. Der Schlüsselanhänger in Schmetterlingsform ist genau das richtige. Auf die Wand gesetzt, zeigt er das, was dahinter passiert auf einem Bildschirm, der sich blitzschnell ausgerollt hat. Wörter werden aus jeder Sprache in meine übersetzt und in Textform dargestellt. Ein Film mit Untertiteln also, der aber jetzt gerade erst, nebenan gedreht wird. Und ich bin sehr gespannt, was ich zu sehen bekomme. Auf dem kleinen Bildschirm erscheint ein Wohnzimmer mit Schrank, Couchgarnitur, und Eßecke vor dem Fenster. Die beiden Mädchen sind auch zu sehen. Sie albern jetzt aber nicht herum, sondern machen ernste Minen. Der kleine Drahtige steht am Esstisch, auf dem irgendeine Apparatur aufgebaut ist. Sie sieht aus, wie aus einem Labor. Der Drahtige schaut gespannt auf die Apparatur. Niemand in der Wohnung sagt etwas. Ich erkenne in der Apparatur einen Schlitz, in dem sich ein Blatt Papier befindet, dass jetzt von grünem Licht abgetastet wird. Dann leuchten zwei kleine Lämpchen auf. Erst eine weiße, dann eine blaue. Ich sehe den Drahtigen die Lippen bewegen. „Es ist das richtige Blatt“, ist auf dem Bildschirm zu lesen. „Geht, und holt den Major!“ Eines der Mädchen verläßt den Raum. Ich freue mich, jetzt endlich zu wissen, welches wirklich das richtige Blatt ist. Es ist zwar in der Hand des Feindes, aber mein Plan, dies zu ändern nimmt schon Form an. Solange sie sich sicher fühlen passiert nichts. Nur, wenn noch eine vierte Person dazu kommt, wird es langsam schwierig für mich. Also beschließe ich spontan auf ’s Ganze zu gehen. Mit meinem Handy bestelle ich einen Imbiss in die Nachbarwohnung, und mache es ganz besonders eilig. „Wenn sie es schaffen in fünf Minuten hier zu sein, bekommen sie zehn große Scheine. Für jede Minute länger gibt es einen Schein weniger,“ sage ich. Während ich auf den Imbiss für die Nachbarwohnung warte, ziehe ich mir meine Schuhe wieder an. Aus den Hosentaschen ziehe ich Handschuhe. Es sind sehr dünne Spezialhandschuhe. Nun gehe ich an dass Fenster, und betrete den Balkon. Er endet nur knapp einen Meter vor dem Balkon der Nachbarwohnung. Ein hölzerner Sichtschutz sorgt für Privatsphäre. Ich befestige das Ende eines aufgewickelten Drahtes am Geländer des Nachbarbalkones, ohne mich dabei sehen zu lassen. Die Spule mit dem Draht lasse ich an einem Verschluss an meinem Gürtel einrasten. Leise klettere ich auf das Geländer des Nachbarbalkones, und verstecke mich hinter dessen Sichtschutz. Ich warte auf das Klingeln des Essenslieferanten. Als es klingelt, bewegt sich erst mal Niemand in dem Raum. Dann sehe ich den Drahtigen herrische Bewegungen zu dem Mädchen machen, dass darauf zur Tür geht. Der Drahtige zieht eine Pistole aus der Jacke, und stellt sich vor den Wohnzimmerschrank, von wo aus er ungesehen die Tür in Schach halten kann. Ich komme, immer noch auf dem Geländer stehend, hinter dem Sichtschutz hervor und gehe sprungbereit in die Hocke. Das Mädchen öffnet die Tür, und draußen steht ein Mann mit einer großen Styroporkiste. „Nummer Zweiundachtzig und Dreiundneunzig,“ fragt er. Das Mädchen schüttelt den Kopf. „Nichts bestellt“, sagt sie. Der Drahtige scheint Verdacht zu schöpfen. Ohne das er von der Tür aus gesehen werden kann, richtet er seine Waffe auf das Fenster. Ich bleibe ganz ruhig. Hier draußen ist es dunkel, und ich weiß, er kann mich nicht sehen, denn drinnen ist das Licht an. Der Mann an der Tür sagt, er wäre wirklich sehr schnell hier gewesen, und möchte jetzt sein versprochenes Geld haben. Der Drahtige richtet die Waffe wieder auf die Tür als das Mädchen beginnt wütend den Essenslieferanten zu beschimpfen. Ich wittere meine Chance und springe mit voller Kraft, die Hände voran auf die Scheibe des Wohnzimmerfensters, dass daraufhin zerbricht. Durch die Spezialhandschuhe geschützt, bleiben meine Hände unverletzt, und ich falle, zusammen mit tausend Scherben in den Raum. Der Drahtige zielt sofort wieder mit seiner Pistole in meine Richtung, und schießt. Ich werfe eine Nebelbombe in Miniaturformat, die sofort den Raum in undurchdringbare Nebelschwaden hüllt. Der Drahtige schießt noch einmal, kann mich aber nicht sehen. Ich hetze an den Esstisch, ziehe das Blatt Papier aus dem Schlitz und spüre etwas elektrisierendes auf meiner Hand. Schnell hechte ich zurück durch das zerbrochene Fenster auf den Balkon, und springe über die Brüstung. Von dem Draht an meinem Gürtel gehalten, lasse ich mich auf den darunter liegenden Balkon gleiten. Oben sehe ich den Drahtigen auf seinem Balkon erscheinen, und mit der Pistole herumfuchteln. Ich trete meine Balkontür ein und stürme in die dahinterliegende Wohnung. Sie scheint bewohnt zu sein, aber Niemand ist drin. Ich renne zur Wohnungstür. Sie ist abgeschlossen. Es kostet mich etwas Zeit die Wohnungstür aufzubrechen und hinaus zu gelangen. Als ich auf dem Flur stehe, kommt schon der kleine Drahtige um die Ecke gebogen, und zielt mit seiner Waffe auf mich. Ich springe zurück in die Wohnung und auf den Balkon. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich muss das Haus außen herum verlassen. Für die Drahtsicherung bleibt keine Zeit. Ich klettere auf das Geländer, und versuche auf den Balkon unter mir zu springen. Dabei schrappe ich schmerzhaft an dessen Brüstung vorbei, und falle auf seinen Betonboden. Benommen versuche ich wieder auf das Geländer zu klettern, um noch tiefer, bis zum Erdboden zu gelangen, als der Drahtige von oben auf mich schießt. Ich habe Glück, bin gerade in Bewegung, als er abdrückt, und höre die Kugel knapp an meinem Kopf vorbeirauschen. Ich lasse mich von dem Geländer herunterfallen und versuche gar nicht erst den Balkon unter mir zu treffen, sondern direkt bis auf den Boden vor dem Haus zu gelangen, der auch nicht viel tiefer zu liegen scheint. Der Aufprall ist aber dennoch so heftig, daß mir kurz die Sinne schwinden. Als ich mich aufrappeln will, drückt mir der Drahtige seine Pistole gegen die Stirn. „Na, ist es das richtige Blatt?“ fragt er ironisch. Das Mädchen aus der Wohnung steht neben ihm und sagt: „Du wirst es uns bringen! Hörst du?“ Während sie das sagt, stellt sie den Absatz ihrer Pöms auf meinen Kehlkopf, und verdreht dabei ihren Fuß. Ich kann nicht mehr antworten, und sinke zu Boden. Meine Sinne schwinden komplett.
Als ich wieder zu mir komme, befinde ich mich, an einen Stuhl gefesselt in der Wohnung der Asiaten. Das Mädchen mit dem Stöckelschuh steht vor mir, und sieht mich an. Als sie sieht, dass ich wieder zu mir komme, zieht sie sich ihren rechten Schuh aus, und nimmt ihn in die Hand. Sie hält den spitzen Absatz vor mein Auge. „Möchtest du, dass ich dein Auge zerquetsche?“ fragt sie mich. „Nein, bitte nicht. Es tut mir Leid, aber ich brauche doch dieses Blatt,“ sage ich. „Ja, wir auch, und du wirst es uns bringen,“ lässt sie mich rätseln. „Aber ihr habt es doch schon,“ sage ich. „Meinst du das hier?“ fragt sie, und nimmt das Blatt Papier, um dass es die ganze Zeit geht, und hält es in eine Feuerzeugflamme. Das Blatt fängt an zu brennen, und sie lässt es fallen. Ein paar glühende Papierfetzen versengen den Fußboden. „Das Blatt, das wir suchen brennt nicht,“ sagt sie. Der Drahtige kommt hinzu. „Na, haben wir dich gut angeschmiert? Wir sind dir überlegen. Du wirst für uns arbeiten. Dann darfst du die Formel als Zweiter benutzen,“ bestimmt er. „Oder ich überlasse dich…“ er sieht bedeutungsschwer zu dem Mädchen, dass immer noch ihren Stöckelschuh vor mein Auge hält. Ohne das er weiterredet, wird mir klar, dass ich es mit einem sehr harten Brocken zu tun habe. Das Mädchen sagt: „Du musst zurück auf den Berg. Aber ohne, dass dich jemand sieht und erkennt. Du mußt dich verkleiden und inkognito ein Zimmer in dem Motel nehmen, denn das Ehepaar, mit dem du immer geredet hast, hat das richtige Blatt. Wir kommen nicht an sie heran, aber du schon.“
Verkleiden ist leicht gesagt. Das ist nicht mehr mit Perücke und falschem Bart getan. Die drei entpuppen sich als wahre Maskenbildner. Als sie nach einigen Stunden mit mir fertig sind erkenne ich mich wirklich nicht mehr im Spiegel wieder. „Damit du Erfolg hast, bekommst du noch eine besondere Technik mit auf den Weg,“ sagt eines der Mädchen. „Deinen Schlüsselanhänger kannst du nicht benutzen. Das merken sie. Du wirst sie mental überwachen,“läßt sie mich rätseln. Sie erzählt mir irgend etwas von Hypnoseinput, und ihre Stimme klingt ganz weit entfernt, aber doch sehr deutlich. Dann mache ich mich wieder auf den Weg in die Stadt. Dieses Mal nicht zu Fuß, sondern mit dem Touristenshuttle. So, wie es sich gehört. In dem Plattenbaumotel kann ich glücklicherweise ein Zimmer neben dem älteren Ehepaar beziehen. Innerlich guter Dinge, doch noch an mein Ziel zu kommen, harre ich dort aus, und versuche meine neuen mentalen Fähigkeiten zu benutzen. Zum Beobachten brauche ich nur über die Zimmerwand zu gucken, die wie alle anderen Wände zwischen den Zimmern, nur etwa dreiviertelhoch ist. Ich kann die anderen sehen. Wenn sie in meine Richtung schauen, ducke ich mich schnell hinter der Wand. Mit einem guten Gefühl harre ich weiter aus, und beobachte. Es ereignet sich aber im Moment nicht wirklich viel, und alles verfällt in Argonie. Nur Geduld. Meine Stunde wird schon kommen.
